Ehemaliger EURo-Spieler Holger Kruse nach tragischem Sportunfall: „Ich hatte trotzdem Glück“

Holger Kruses Blick wirkt nachdenklich, wenn er an den schlimmsten Moment seiner Handballkarriere denkt.

Ein tragischer Sportunfall, der ihn für immer verändert hat – körperlich, aber auch mental. Es ist der 18. Mai 2023, Vatertag, kurz vor dem Saisonfinale in der Handball-Oberliga. Der TuS Möllbergen spielt beim HSC Haltern-Sythen und braucht dringend Punkte für den Klassenerhalt. Mit im Mannschaftsbus sitzt Holger Kruse. Er ist Kreisläufer, Führungsspieler und Frohnatur. Ein Spieler, den man sich als Trainer wünscht, weil er durch seine kompromisslose Art Handball zu spielen auffällt und der Mannschaft ein Gesicht gibt.

„Es ist eigentlich alles wie immer. Nur, dass man sich vielleicht etwas Besseres vorstellen kann, als bei strahlendem Sonnenschein in einer stickigen Halle Handball zu spielen“, sagt Kruse. Die erste Halbzeit läuft aus seiner Sicht normal. Zwar geht es auf dem Spielfeld ordentlich zur Sache, doch es sind die üblichen Härten, schließlich geht es für beide Teams um den Klassenerhalt. Für Möllbergen läuft es nicht gut, weil man mit einem Treffer zurückliegt. Aber der Gegner ist zur Pause noch immer in Reichweite.

Immer mit vollem Körpereinsatz: Holger Kruse (in Ballbesitz), hier bei einem Spiel gegen den Soester TV MT-Foto: Archiv/Thomas Kühlmann – © Thomas Kühlmann
Holger Kruse in seiner Heimhalle in Möllbergen. – © Jörg Wehling

Kurz nach dem Seitenwechsel passiert es dann. Möllbergen fängt einen Halterner Angriff ab und leitet den nächsten Spielzug ein. Es geht schnell nach vorne, wo Kruse schon auf das Zuspiel seines Mitspielers lauert. Doch der Pass ist ungenau, der baumlange Handballer hechtet hinter dem Ball her und kracht in voller Geschwindigkeit und mit etwa zwei Zentner Körpergewicht auf das Knie eines Halterner Abwehrspielers. Schnell schart sich eine Gruppe um den verletzten Spieler, schließlich bleibt der 29-Jährige benommen am Boden liegen. Die Partie wird unterbrochen. Björn Krone, Physiotherapeut beim TuS Möllbergen, eilt zu Kruse und hilft. „Anfangs haben alle gedacht, ich hätte mir nur das Nasenbein gebrochen, weil Blut aus der Nase lief. Das stellte sich allerdings später als Irrtum heraus“, sagt Kruse, der sich noch daran erinnern kann, dass er mit seinem Physiotherapeuten in die Kabine geht. Dort zeigt sich das wahre Ausmaß seiner Verletzung. Die rechte Seite seines Gesichts ist großflächig eingedrückt. Jochbein und Augenhöhle sind sichtbar demoliert. „Auf dem rechten Auge konnte ich nicht mehr nach oben gucken“, erinnert sich der Portaner Handballer, der noch wahrnimmt, dass sein Physio sehr aufgeregt wirkte – im Nachhinein zurecht – denn Krone ist es auch, der einen Krankenwagen alarmiert. Statt in das städtische Krankenhaus geht es für Kruse gleich in eine Spezialklinik für Gesichtsverletzungen. Kruses Pech ist allerdings, dass es Vatertag ist und die Notaufnahme sehr voll ist.

„Dann wäre ich heute wohl ein Pflegefall“

Das Ausmaß seiner Verletzung wird offenbar auch dort zunächst unterschätzt. Eineinhalb Stunden dauert seine Wartezeit. Noch immer im Möllberger Trikot sitzend, wartet er auf die Weiterbehandlung. Eine Untersuchung im CT ergibt schließlich, dass er sich auch einen Schädelbasisbruch zugezogen hat, zudem hat der Kiefer etwas abbekommen. Daraufhin geht alles sehr schnell. Kruse wird sofort auf die Intensivstation verlegt, weil auch unklar ist, inwieweit das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen ist. „Trotz dieser Umstände hatte ich auch großes Glück. Hätte die Gehirnblutung noch länger gedauert, dann wäre ich wohl heute ein Pflegefall“, sagt der Handballer.

Nachdem sich sein Zustand stabilisiert hat, steht schließlich die Operation an. Vier Platten werden mit 25 Schrauben rund um sein rechtes Auge eingesetzt. Sein größtes Problem dabei: Kruse kann zunächst seinen Kiefer nicht bewegen. Eine Einschränkung, die sich bis heute deutlich gebessert hat – aber in Erinnerung bleiben wird. „Ich kann noch immer nicht den Mund allzu weit öffnen. Hamburger kann ich nur mit Messer und Gabel essen, weil ich den Kiefer nicht weit genug aufbekomme“, sagt Kruse.

Was ihm in dieser Zeit hilft, ist der Zuspruch, den er auf vielfältige Art und Weise erfährt. „Anfangs haben ja viele nicht mitbekommen, wie schlecht es um mich stand. Es war für meine Familie und alle, die mich kennen, ein großer Schock“, berichtet Kruse. Eine Woche liegt er im Krankenhaus in Recklinghausen – viele Freunde besuchen ihn in dieser Zeit, bevor es dann zurück nach Minden geht. Erst im Johannes Wesling Klinikum wird in einer zweiten Operation sein Kieferbruch behandelt. Das Martyrium ist für ihn damit zunächst vorbei.

„Ich spiele immer mit 100 Prozent Körpereinsatz“

„Ich bin ein ehrgeiziger Mensch und natürlich habe ich mich damit beschäftigt, ob ich weiter Handball spielen möchte“, sagt Kruse. Und er ist nach langer und reiflicher Überlegung zu einem Entschluss gekommen. „So wie es jetzt aussieht, muss ich mit meinem Sport abschließen. Wer mich kennt, weiß, wie schwer mir das fällt. Meine Art Handball zu spielen, kann ich nicht ändern. Ich spiele immer mit 100 Prozent Körpereinsatz. Das Risiko wäre zu groß. Ich könnte damit auch meine berufliche Selbstständigkeit aufs Spiel setzen.“ Auflaufen für seinen TuS Möllbergen, wo er mit seinen Freunden wie Frederik Altvater spielt, möchte er dennoch. Einen ersten Termin, um einen sportlichen Schlussstrich ziehen zu können, muss er aber verstreichen lassen. Es wäre das Verbandsliga-Derby bei Lit 1912 III gewesen. Allerdings zwingt ihn eine Corona-Erkrankung an diesem Tag zum Zuschauen.

„Es ist ja nur aufgeschoben. Die Saison ist noch lang. Aber jetzt stehen für mich andere Dinge im Vordergrund. Ich habe gelernt, wie schnell es gehen kann, wie schnell alles vorbei sein kann“, sagt Kruse, der nun auf einen Termin wartet, damit die Metallplatten, die in seinem Gesicht noch die Knochen zusammenhalten, entfernt werden. Anschließend möchte sich der 29-Jährige, der als Selbstständiger eine Firma im Finanzdienstleistungsbereich in Hamburg führt, ganz auf andere Dinge im Leben konzentrieren. „Handball ist seit 25 Jahren ein Teil meines Lebens. Ein mögliches Abschiedsspiel hole ich irgendwann nach. Letztendlich entscheiden aber die Ärzte, ob und wie oft ich noch spielen kann.“